Predigt im Festgottesdienst zum 333. Geburtstag Kirchengemeinde Ramelsloh

 

18. Juni 2017
– Es gilt das gesprochene Wort –

Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserm Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Amen.

Liebe Festgemeinde,
eigentlich hätten wir heute um 8.30 Uhr Gottesdienst feiern müssen. Das war so üblich, vor 333 Jahren, nachdem die Ramelsloher Gemeinde am 11. Januar 1684 durch eine fürstliche Verordnung von Pattensen getrennt und mit der Stiftskirche zusammengelegt wurde. Im Sommer feierte man Gottesdienst um 8.30 Uhr, im Winter um 9.00 Uhr. Conrad Balthasar Volckmann war der Pastor, der seine Gemeinde so früh zusammenrief. Ramelsloh war seine erste Stelle und er war damals zunächst zuständig für die etwa 20 Bewohner des Stifsbezirkes. Über den regen Pastor wird in Ihrer Chronik viel Lobenswertes berichtet. Sein größter Verdienst war der Zusammenschluss von Stifts- und Dorfgemeinde im Jahre 1684, die bis dahin zu Pattensen gehörte, „ohngeachtet der vielen Unkosten, Reisen, Mühe und Verdrießlichkeiten …“, die er dafür auf sich nahm. Er gab dafür sein privates Geld und die Fusion zehrte auch die Vermögen
seiner verstorbenen Ehefrauen auf. Durch den Zusammenschluss von Stifts– und Dorfgemeinde kamen noch etwa 80 Leute aus über 20 Häusern zu seiner Gemeinde hinzu. Die Ramelsloher dankten ihm seine Bemühungen „vor Gottes Ehre und seiner Kirche besten“ mit regem Gottesdienstbesuch. Ein Epitaph hier in der Kirche erinnert an diesen eifrigen Geistlichen.

Doch nicht nur an ihn denken wir heute Morgen. Kirchengemeinden sind Erinnerungsorte, die Raum und Zeit miteinander verbinden. Es sind große Speicher menschlicher Geschichte. Wie viele Abertausende von Lebensgeschichten, Biographien und Karrieren leben, und lebten seitdem in Ihrer Gemeinde. Welch’ Reichtum an Liebe und Verzweiflung, welche Fülle an Freude und Jubel gab und gibt es untereinander. Wie unerforschlich all die Schicksalsschläge in Ihrer Gemeinde. Die jungen Leben, die Gott zu sich rief, die Abschiede, die Krankheiten und Schmerzen, die ausgehalten wurden oder geteilt, all die Konflikte und Streitereien, die Tränen, die umeinander geweint wurden und die vielen unbeantworteten Fragen an Gott. All das füllt unsere Gemeinschaft auf. Wenn wir zusammen beten, wenn wir als Gemeinde unseren eigenen Lebenshorizont überschreiten und zu Gott rufen: Herr erbarme dich, dann sind wir zusammen
mit all denen, die vor uns zu Gott gerufen haben. So erfassen wir die Geschichte in der Erzählung von Biographien. Fast alle unsere Kirchenfeste sind Erinnerungen an Glaubensgeschichten, die in der Vergangenheit liegen. Und hier auch die Erinnerung an den Ort, der 845 zur Aufnahme von Ansgar führte, durch die Adelsfrau Ikia. Wie alt ist dieser Ort, versehen mit Bewegungen, die die Mission in Nordeuropa bewegten vor mehr als 1150 Jahren.

Wie sieht dieses Erinnern aus an einem solchen Festtag, an dem es gleich drei gute Gründe zu feiern gibt: Der 333. Geburtstag Ihrer Kirchengemeinde, die Beendung des ersten Schrittes Ihrer Kirchturmsanierung, so dass wir heute die Kirche zum ersten Mal seit zwei Jahren ohne Gerüst sehen können und das vierte Ansgarfest auf dem Domplatz, das heute gefeiert wird und vom Kuratorium der St. Ansgar Stiftung ins Leben gerufen wurde. Und das alles im Jubiläumsjahr, in dem wir an 500 Jahre Reformation erinnern. „Ein Drittel und ein halbes Jahrtausend: 333 Jahre Kirchengemeinde Ramelsloh – 500 Jahre Reformation“ haben Sie es genannt in den Ankündigungen. Und einen Psalmvers über diesen Gottesdienst gesetzt, der unseren Blick auf diesen Festtag noch einmal anders lenkt: „Denn tausend Jahre sind vor dir / wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache.“ (Psalm 90,4).

„Unermeßlicher Gott, der den leuchtenden Morgenstern aufscheinen läßt; wenn die Nacht vertrieben ist, schaffst du neues Licht.“ So schreibt der Apostel des Nordens, Ansgar in den Pigmenta, den Psalmauslegungen zum Psalm 90.

Wir neigen dazu, fast alles auf unser jetziges, auf unser eigenes Leben zu beziehen. Auch die christliche Auferstehung wird zumeist gedacht als einen Teil des Lebens im Hier und Jetzt. Wir haben eine große Vergangenheitsvergessenheit und Zukunftsscheu entwickelt in den Bildern unseres Glaubens. Gedanken über eine Dimension, in der 1000 unserer Jahre wie ein Tag sind, sind uns nahezu unmöglich. Während Naturwissenschaftler uns unendliche Zeiten und Raume beschreiben und beispielhaft berichten von einer Sicherheit von einer Millionen Jahre für ein atomares Endlager, erscheint dagegen unsere religiöse Vorstellungswelt geradezu verkümmert. Unsere Vorstellungen über die Vergangenheit unseres Glaubens und über die Verheißung, die uns trägt, sind klein und wir können sie kaum benennen. Wir fixieren uns auf das, was heute möglich ist. Das ist weit vorbei an dem Glauben, der unser Leben trägt und uns mit all den Menschen verbindet, die aus dieser Hoffnung lebten und leben werden.

„Denn tausend Jahre sind vor dir / wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache.“ (Psalm 90,4). Und im neuen Testament heißt es: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ (Mt. 28, 18). Eine göttliche Zeitrechnung legt sich über unsere Feste, über unser Leben, über die Geschichten unserer Dörfer und Städte. 1000 Jahre für einen Tag und einen Tag für 1000 Jahre setzt unser Leben, setzt die 333 Jahre ihrer Gemeinde in einen Zeitzusammenhang, den wir kaum denken können. Gottes Blick geht weit über diesen Tag hinaus. Reicht von Ewigkeit zu Ewigkeit. Die Geschichte dieser Gemeinde, festgehalten auf dem Zeitstrahl dieser Ewigkeit. Die Namen der Menschen dieser Gemeinde, nicht nur kurz gerufen, sondern ins ewige Buch des Lebens geschrieben. Die Gesichter der Gottesdienstbesucher im Blick – jetzt und für alle Zeit. Wir und all die, die weit vor uns waren und weit nach uns kommen. 1000 Jahre für einen Tag. Es ist die Erzählung der Kontinuität des Glaubens, in der es Versagen und Schuld wie Vergebung und Versöhnung gegeben hat. „Denkt der vor’gen Zeiten, wie, der Väter Schar voller Huld zu leiten, ich am Werke war. Denkt der frühern Jahre, wie auf eurem Pfad, euch das Wunderbare immer noch genaht.“ So heißt es im Lied „Ja ich will euch tragen“ (Nr. 380) im Evangelischen Gesangbuch.

„Denkt der vor´gen Zeiten.“ Unsere Kirchengemeinden leben und gestalten diese Erinnerung in besonderer Weise – wie heute hier zu erleben ist oft im großen Einvernehmen mit der Kommune und den Vereinen. Und doch haben Kirchengemeinden eine besondere Art, Geschichte zu bewahren. Kirchengemeinden haben – jahrhundertelang, bevor es in den Einwohnermeldestellen fortgeführt wurde – eine Geschichte der Menschen geschrieben. Und zwar nicht nur die Geburtsund Sterbedaten, sondern die Umbrüche, die Schnittstellen des Lebens dokumentiert, die in der Kirche gefeiert wurden. Hier wird das Angemessene getan, was man mit den Geschichten von Menschen tun kann: Hier werden sie in Kirchenbücher eingeschrieben und aufbewahrt und darin wird ihre Geschichte erzählt und wiedererzählt, immer und immer wieder neu. Auch hier war Pastor Conrad Balthasar Volckmann ein Vorreiter und hat das älteste Kirchenbuch Ihrer Gemeinde eingeführt.

Noah Philippe Jobmann (Säugling), Elina Marleen Hartig (Säugling) , Tanja Gärtner-Goldt (Erwachsenentaufe – zugleich Patin für den 4. Täufling), Lia Sophie Krüger (Säugling) und Mahdi Majidi sind die jüngsten Namen, deren Taufe zu Pfingsten in Ihrem Kirchenbuch aufgenommen wurde. Und mit Frau Majidis Name verbindet sich auch eine neue Geschichte, die Ihre Gemeinde seit einiger Zeit schreibt. Sie ist der siebte aus dem Iran geflüchtete Mensch, der nach einem Taufunterricht in dieser Gemeinde getauft wurde. In die Diskussion, ob die evangelische Kirche leichtfertig mit der Taufe umgeht und christliche Taufe von Flüchtlingen für ihr Bleiberecht missbraucht wird, zeichnet Ihre Gemeinde eine Gegengeschichte. Sie als Gemeinde glauben daran, dass Menschen nicht nur in unseren Dörfern, sondern auch in unserem Glauben eine neue Heimat finden können. Ihre Gemeinde wägt sorgfältig ab und bereitet mit einem Taufunterricht ebenso sorgfältig auf diesen großen Schritt vor. Ihre Gemeinde empfängt bislang Unbekannte in ihrem Gottesdienst und gibt denen eine Heimat, die einen neuen Anfang machen wollen.

Früher wurde die Geschichte eines Dorfes, einer Gemeinde in Generationen erzählt. Und es wurde nicht einzeln gelebt, sondern in Gemeinschaft gedacht und gelebt. Beides ist heute bedroht. Die Individualisierung fördert das Interesse des Einzelnen. Und die Bewegungen aus der Heimat nehmen zu. Als 1917 in einem Buch über die evangelische Kirche in Niedersachsen geschrieben wurde, stellte der Autor fest, dass über 75 % der Bewohner in einzelnen Landesteilen ihr Leben lang in dem Heimatort geblieben sind, in dem sie auch geboren waren. Und 15 % der Bevölkerung hatte es bis in das Nachbardorf geschafft. Nur wenige erhalten heute in unserer Bevölkerung diese Treue zum Ort durch die Generationen. Wenn wir als Gemeinden mit neuer Geschichte in unseren Kirchen um Gottes Segen bitten, dann vertrauen wir der Verheißung, die weit über unser Leben, unser Dorf und unsere Zeit hinausgeht. Wir bezeugen uns nicht selbst durch unseren Reichtum, unsere Fixheit in der Welt, durch unsere Gesundheit, durch unsere Erfolge. Unser Leben ist nicht gerettet, weil wir es retten, sondern weil wir angesehen sind vom Blick der Güte. Unsere Gesichter im Blick – jetzt und für alle Zeit. Unsere Geschichte, festgehalten auf dem Zeitstrahl der Ewigkeit. Unsere Namen nicht nur kurz gerufen, sondern ins ewige Buch des Lebens geschrieben. Das gilt für alteingesessene Dorfbewohner und für die, die neu zu uns kommen wollen. So schreiben wir Geschichte weiter. Auch gegen Widerstände.

Denn das ist Kraft der Gemeinde Gottes, dass sie eine verheißungsvolle Widerständigkeit in sich trägt. Sie weiß von dem Reich Gottes, in dem Jesus Aussätzige heilt. In dem er sich mit anscheinend nicht gesellschaftsfähigen Menschen an einen Tisch setzt. In dem er eine Ungehörigkeit nach der anderen begeht und damit Menschen Wege öffnet in die Gesellschaft seiner Zeit. Unser Horizont ist heute um ein Vielfaches weiter als der Horizont der Menschen vor zweitausend und vor 333 Jahren. Wenn wir in der Nachfolge dieses Mannes bleiben, können wir lernen, größer zu denken, weiter zu glauben und großräumiger Kirche zu sein, als wir es bisher waren.

Die Herausforderungen sind groß. Manchmal sind wir müde. Manchmal resigniert und kraftlos. Halten wir uns an die Geschichte, die diese Kirchengemeinde erzählt, vor 333 Jahren und in jüngster Zeit. Sie birgt so viele Schätze. Zehren wir von diesem Festtag und bleiben zuversichtlich. Gehen wir aufrecht das kleine Stückchen Weg, das uns zur Verfügung steht. Breiten wir die Arme aus und heißen willkommen, die vielleicht noch fremd sind in unserem Glauben und unserer Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Frieden. Das ist das, was wir tun können, ein paar Sommer lang.

„Millionen Jahre waren, ehe es mich gab, Gott.
Jahrmillionen werden vielleicht nach mir sein.
Irgendwo in ihrer Mitte sind ein paar Sommer,
in denen für mich Tag ist auf dieser Erde.
Für diese Spanne Zeit danke ich dir.“
(Jörg Zink)

Gott segne Ihre Gemeinde auf Ihrem Weg.

Amen